Nicht jede Beleidigung und nicht jede Hetze ist Hate Speech. Wenn ich einen Autofahrer, der mir die Vorfahrt nimmt, als "Arschloch" bezeichne, dann beleidige ich ihn zwar. Aber Hate Speech ist es deswegen noch nicht, selbst wenn es mein alter Bekannter Gerd ist, dem ich schon länger in Feindschaft verbunden bin, den ich vielleicht sogar hasse.
Hate Speech ist eine Sonderform der Herabwürdigung. Eine Herabwürdigung besteht darin, dass man einer Person eine soziale Identität zuschreibt, die von der Mehrheit der Gesellschaft negativ beurteilt wird, eine unwerte, moralisch verwerfliche oder randständige Identität.
Diese Zuschreibung, auch wenn sie rein sprachlich ist, ist mehr als bloß Worte. Sie hat Folgen im realen Leben. Mit ihr verbunden sind Vorstellungen davon, wie man mit Personen, denen diese Identität zugeschrieben wird, umgehen kann oder sogar umzugehen hat. Ein "Arschloch" zu sein, ist für die meisten Menschen keine positive Eigenschaft und wer als ein Arschloch gilt, dem begegnet man mit wenig Freundlichkeit, den grenzt man aus, den straft man mit Missachtung.
Im Unterschied zu anderen Formen der Hearbwürdigung liegt Hate Speech dann vor, wenn die Herabwürdigung ihre herabwürdigende Kraft daraus bezieht, dass eine Person als Vertreterin einer Gruppe adressiert wird und ihr negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die dieser Gruppe vermeintlich kollektiv, universell und unveränderbar zukommen.
Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach: Wer eine Person als "geldgierigen Juden" bezeichnet, der kommuniziert im Modus von Hate Speech, indem er einer Person eine negativ bewertete Eigenschaft zuschreibt (geldgierig sein) und diese Zuschreibung damit begründet, dass die Person Angehörige einer Gruppe sei, für die Geldgier vermeintlich eine konstitutive Eigenschaft ist. Wenn im Kontext von PEGIDA Flüchtlinge aus den Maghreb-Staaten "triebgesteuerte afrikanische Fickilanten" genannt werden, dann ist dies Hate Speech, denn die Bezeichnung schreibt Personen eine negativ bewertete Eigenschaft zu (nämlich zum Zweck der Triebbefridigung missbräuchlich politisches Asyl beantragt zu haben) und begründet dies damit, dass sie zur Gruppe der Afrikaner gehörten, deren Angehörige quasi von Natur aus triebgesteuert seien.
Daran ist natürlich so ziemlich alles falsch: Selbstverständlich ist jede Person als Individuum zu behandeln, ihre Persönlichkeit ist nicht durch die Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe determiniert, die Gruppen, zu deren Vertretern einzelne Personen sprachlich gemacht werden, sind soziale Konstrukte und daher auch nicht durch natürliche, bei allen Vertretern vorhandene Eigenschaften abgrenzbar, und so weiter und so fort.
Damit eine Äußerung den beabsichtigten herabwürdigenden Effekt hat, ist es nicht genug, sie öffentlich oder zumindest für den zu Beleidigenden wahrnehmbar zu äußern. Sie könnte als irrelavant ignoriert oder als Zeichen einer nicht normgemäßen Geistesverfassung des Beleidigers zurückgewiesen werden. Damit die Zuschreibung einer marginalisierten sozialen Identität gelingt, muss sie von Dritten, die Zeuge der herabwürdigenden Äußerung sind, anerkannt werden.
Nur wenn eine relevante Gruppe von Menschen die Zuschreibung der negativen Eigenschaft als zutreffend anerkennt, hat dies Folgen für die soziale Identität der Betroffenen. Das unterscheidet sprachliche Gewalt auch von physischer Gewalt: Physische Gewalt kann man aufzwingen, symbolische Gewalt bedarf der Anerkennung durch Dritte. Damit Hate Speech wirken kann, braucht sie daher die Öffentlichkeit, den Skandal. Ohne die Claqueure auf den Plätzen, ohne die Likes auf Facebook hätte Hate Speech keine Chance.
Die Chance auf Anerkennung steigt, wenn die Herabwürdigung Bezug nimmt auf Vorurteile und auf Wissen, das in einer Gesellschaft ganz selbstverständlich und unhinterfragt als wahr gilt. Frauen sind "das schwache Geschlecht", Schwarze sind "faule, sinnliche Menschen" mit "Rhytmus im Blut", Japaner sind "verklemmt", Asiaten "sehen alle gleich aus", Deutsche sind "ordentlich" und "arbeitsam".
Noch größer sind die Chancen auf Anerkennung, wenn eine Gruppe selbst über die diskursive Macht verfügt, kollektive Vorstellungen davon zu erzeugen, was als wahres Wissen gilt. Die Echokammern der sozialen Netzwerke, in denen jeder geteilte Informationsschnipsel beispielsweise zur Konstruktion eines Wissens um den vermeintlich kriminellen Charakter des Ausländers beiträgt und jeder Widerspruch als Manipulation der Lügenpresse gedeutet wird, sind nützliche Kraftzentren der Produktion von Normalitätsvorstellungen.
Aus dem bisher Gesagten sollte klar sein, dass im Modus von Hate Speech geäußerte Beiträge zu öffentlichen Debatten verzichtbar sind und in den meisten Fällen kontraproduktiv wirken. Menschen auf ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe und auf negative Eigenschaften zu reduzieren, die vermeintlich allen Menschen dieser Gruppe quasi natürlich und unveränderlich zukommen, ermöglicht keine Verständigung und löst keine Probleme, sondern führt zu Entwürdigung, Ausgrenzung und Feindseligkeiten. Man sollte meinen, dass niemand ernsthaft dagegen sein kann, Hate Speech sozial zu ächten. Warum wird um Hate Speech dennoch so leidenschaftlich gestritten? Dafür gibt es drei Gründe.
Erstens wird die Bezeichnung "Hate Speech" im öffentlichen Diskurs auch für Phänomene verwendet, die ebenfalls unschön, aber kein Hate Speech im Sinn der obigen Begriffsbestimmung sind, etwa für Pöbeleien ad personam oder allgemein abfällige Äußerungen über Gruppen, deren abwertende Kraft sich nicht aus der Bezugnahme auf quasi-naturalisierte Gruppeneigenschaften speist. Weil aber der Vorwurf der Hassrede schwer wiegt, provoziert eine zu starke Ausweitung des Begriffs Widerstand.
Der Streit um Hate Speech entfacht sich zweitens daran, dass gesellschaftlich umstritten ist, was eigentlich als eine Herabsetzung gelten kann. Zwar suggeriert die obige Definition Eindeutigkeit im Hinblick darauf, welche spezifische Art der verbalen Herabsetzung den Charakter von Hate Speech hat und welche nicht. Allerdings gibt sie kein objektives Kriterium für die Identifizierung jener Eigenschaften an, die geeignet sind, Personen eine marginalisierte soziale Identität zuzuschreiben. Ist es bereits herabwürdigend, die Herkunft, den Glauben oder die sexuelle Orientierung einer Person in einem Gespräch relevant zu setzen? Ist die Zuschreibung von Eigenschaften wie "weiblich", "dick", "behindert", "türkisch" oder "glatzköpfig" geeignet gruppenspezifische negative Stereotype zu transportieren und damit eine Person abzuwerten und zu marginalisieren? Drückt der Satz "Was sagst du als Frau dazu?" ein argloses Interesse an einer genderspezifischen Sichtweise aus? Oder kommt mit ihm zum Ausdruck, dass für den Frager die Sichtweise seiner Gegenüber ausschließlich von ihrem Frausein bestimmt ist, wobei "weiblich" das andere, von der Norm abweichende Geschlecht ist?
Drittens ist die Frage umstritten, auf welche Weise Hate Speech eigentlich realisiert werden muss, um Hate Speech zu sein. Kann man nur dann von Hate Speech sprechen, wenn eine Person oder Personengruppe direkt angesprochen wird? Oder sind auch indirekte Formen der Bezugnahme auf Personen und Gruppen wie das Vorkommen des N-Wortes in einem Kinderbuch Hate Speech? Oder sind gar bildliche Ausdrücke wie "der Vergleich hinkt" herabwürdigend, weil sie etwas Falsches, Defizientes mit einer körperlichen Einschränkung verknüpfen?
Diese Fragen lassen sich nicht objektiv entscheiden. Welche Art der sprachlichen Äußerung als Herabsetzung gilt, welche Zuschreibung zu einer marginalisierten sozialen Identität führt ist das Ergebnis gesellschaftlicher Debatten und wir sind mitten drin.
Es wäre aber zu einfach, die Debatte um Hate Speech ausschließlich als einen Kampf um Wörter zu beschreiben. Bei ihr geht es um viel mehr: Sie aktualisiert Konflikte um Partizipation, um Deutungsmacht und damit um die soziale Ordnung.
Wenn über die Frage gestritten wird, ob die Bezeichnung "Fettleibigkeit" noch verwendet werden sollte oder nicht, dann geht es auch um die Frage, welche negativen Eigenschaften mit dieser Zuschreibung transportiert werden und welche marginalisierenden Effekte diese Zuschreibung für die Betroffenen daher haben kann, sei es bei der Arbeitsplatzsuche, im Gesundheitssystem oder beim Knüpfen sozialer Beziehungen. Mit der Diskussion um die Bezeichnung gerät also immer auch die Frage in den Blick, ob die Bezeichneten eine marginalisierte Gruppe sind, deren Mitgliedern ohne Ansehen der Person negative Eigenschaften zugeschrieben werden, oder nicht.
Wir sollten nicht jenen auf den Leim gehen, die behaupten, die Stigmatisierung von Hate Speech diene lediglich dazu, die Wahrheit zu unterdrücken und die demokratische Debattenkultur einzuschränken. Das Gegenteil ist der Fall: Über die Grenzen von Hate Speech sollten wir leidenschaftlich debattieren, denn die Debatte ist ein Medium der Verständigung darüber, wie unsere Gesellschaft aussehen soll. Ganz gleich zu welchem Ergebnis wir im Einzelfall auch kommen: Es ist eine Debatte mit und über jene, die nicht ins Normalitätsraster aller passen und die sich bislang wenig Gehör verschaffen können. Und schon dies ist ein Schritt hin zu einer größeren Meinungsvielfalt und einer inklusiveren Gesellschaft.