Von Zeit zu Zeit erreichen den Betreiber dieses Blogs Zuschriften von Leserinnen und Lesern. Meistens handelt es sich um Meinungsbeiträge, die sich auf die Kompetenz und den Charakter des Betreibers richten. Solche Zuschriften lege ich gerne im Ordner "Beleidigungen / Beispiele" ab und verwende sie dann anonymisiert in Lehrveranstaltungen zur Freude der Studierenden. Andere Zuschriften zeigen echtes Interesse und ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die sich mit dem Thema so intensiv beschäftigen, dass sie - wie ich auch - echten Klärungsbedarf haben. Nicht immer komme ich dazu, sofort zu antworten. Die Antwort auf die letzte Zuschrift poste ich aber gerne im Blog, weil sie einige sehr interessante Fragen aufwirft.
Die Bedeutung von Wörtern kann man meiner Meinung nacht nicht ein für alle Mal und für alle verbindlich festlegen, zumindest nicht in einer Sprache, die täglich benutzt wird. Ohne jetzt allzu sprachtheoretisch werden zu wollen: Ohne eine gewisse Flexibilität in der Bedeutung und ohne die unscharfen Grenzen könnten wir Wörter gar nicht auf neue Sachverhalte anwenden. Selbst im Bereich des Rechts kann man die Bedeutung von Ausdrücken zwar bis zu einem gewissen Grad festschreiben, es bedarf aber immer noch der Rechtsprechung, um zum Beispiel zu klären, mit welchem Begriff ein bestimmter Sachverhalt adäquat gefasst wird. So ist der Unterschied zwischen Mord und Totschlag in §211f StGB zwar einigermaßen deutlich bestimmt (wobei es natürlich Auslegungssache und damit ein Ergebnis von Rechtsprechung ist, was "niedrige Beweggründe" sind), ob in einem konkreten Fall das eine oder andere vorliegt, ist damit aber immer noch nicht klar und Gerichte können diesbezüglich zu unterschiedlichen Urteilen kommen. Auch in der Wissenschaft betrachten wir Begriffe als Instrumente, mit denen wir die Wirklichkeit erschließen. Und das Ringen um jene Definition, die das am besten tut, ist nicht unabhänhig von dem Zweck, den man mit der eigenen Forschung verfolgt. Deshalb macht man in wissenschaftlichen Publikationen normalerweise die Forschungsinteressen transparent und erklärt in Auseinandersetzung mit anderen, bisher vorgeschlagenen Definitionen, warum man sich für welche Definition eines Begriffs entscheidet. Aber in der Wissenschaft verläuft die Diskussion meistens einigermaßen sachlich. Das dürfte vor allem daran liegen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestimmte Grundüberzeugungen teilen und sich auf bestimmte Verfahren verpflichtet fühlen. Im Umkehrschluss ist es vielleicht so, dass die Diskussionen deshalb so sehr aus dem Ruder laufen, weil gesellschaftlich dieser Konsens nicht mehr für alle Geltung zu haben oder auch nur erstrebenswert zu sein scheint. Dazu mehr in meiner Antwort auf Frage 3.
Ein festes Definitionsbuch hieße, dass es eine herrschende Semantik gibt, die jede bzw. jeder anzuerkennen habe. Das wird so nicht funktionieren. Gerade in politischen Fragen ist jeder Begriff ein Medium, die Welt so zu beschreiben, wie es den eigenen politischen Ansichten entspricht. Deshalb ist jede Diskussion um Worte auch eine Frage, wie die Wirklichkeit verfasst ist. Und jeder politische Akteur möchte gerne seine Sprachregelung durchsetzen und für alle verbindlich machen - und mit ihr seine Interpretation der Welt. "Hetzjagd" oder "Jagdsezenen" oder "verständliche Reaktion trauernder Bürger", "Betreuungsgeld" oder "Herdprämie", "beispielloser Völkermord" oder "Fliegenschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte" konstruieren jeweils den Sachverhalt auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen. Wenn Sie so wollen: Menschen, die die eine oder andere Bezeichnung benutzen, reden auch tatsächlich über zwei verschiedene Dinge, wie Sie es in Frage 1 genannte haben, Und jede Bezeichnung legitimiert andere politische Maßnahmen oder fordert geradezu dazu auf. Solche Bezeichnungskonkurrenzen verweisen auf grundlegende Differenzen in der Konstruktion von Wirklichkeiten und treten in gleicher Weise auf, wenn man versucht, Dinge zu definieren. Über Begriffe zu diskutieren, wird uns wohl nicht erspart bleiben. Denn es geht dabei um viel mehr als um Worte.
Um eine Diskussionskultur wie unter Steinzeitmenschen (obwohl: vielleicht waren die ja viel gesitteter, als wir uns ausmalen) zu verhindern, können Regeln sicher hilfreich sein. Das können formale Regeln sein oder auch diskursethische (wie eine Verpflichtung auf Rationalität, Konsensorientierung, Gemeinwohlorientierung etc.). Allerdings zeigt die Geschichte, dass das Durchbrechen von solchen Gesprächsordnungen immer auch ein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist, insbesondere von jenen, die glauben, keine Stimme zu haben und sich gegen einen übermächtigen Gegner behaupten zu müssen. So war es bei den 68ern, am Anfang bei den Grünen, so ist es heute bei den meisten Populisten, die sich nach Ansicht von Politikwissenschaftlern "parasitär" zu den Regeln des demokratischen Diskurses verhalten (man denke nur an die zahlreichen Unwahrheiten, die Trump in seiner Amtszeit schon verbreitet hat, und seinen Kommunikationsstil). Ich denke, wir müssen uns damit abfinden, dass ein Teil des politischen Spektrums sich davon verabschiedet hat, einen Konsens suchen zu wollen und eingestandenermaßen von der Revolution träumt. Entsprechend rechne ich nicht damit, dass sich dieser Teil auf einen Konsens zu einer geregelten politischen Auseinandersetzung verpflichten ließe, noch sich an einer ernst gemeinten Suche nach einem solchen Konsens beteiligen würde.
Ist die Titulierung von Personen als "Nazi" oder "Rechtspopulist" nach "meiner" Definition Hassrede? Ich glaube, da verstehen Sie mich falsch. Ich schreibe: "Im Unterschied zu anderen Formen der Hearbwürdigung liegt Hate Speech dann vor, wenn die Herabwürdigung ihre herabwürdigende Kraft daraus bezieht, dass eine Person als Vertreterin einer Gruppe adressiert wird und ihr negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die dieser Gruppe vermeintlich kollektiv, universell und unveränderbar zukommen." Entscheidend ist der letzte Teil der Bestimmung: Wenn ich einer Person, weil sie schwarze Hautfarbe hat oder in einem Maghreb-Staat geboren wurde und aufgewachsen ist, nur wegen ihres Aussehens oder ihrer Herkunft per se negative Eigenschaften zuschreibe, dann ist das nach meiner Meinung und nach der vieler Kolleginnen und Kollegen Hate Speech. Denn weder legen Aussehen oder Herkunft Menschen auf irgend etwas fest, noch liegt es in der Hand der Bezeichneten, an ihrer Herkunft oder ihrem Aussehen etwas zu ändern - sie sind nicht dafür verantwortlich. Anders ist es bei Menschen, die Mitglieder der AfD sind oder bei PEGIDA mitlaufen. Sie können sehr wohl etwas dafür, denn sie haben sich in einem Akt freien Willens dazu entschieden, mitzulaufen, mitzurufen und mitzuklatschen oder der Partei beizutreten, regelmäßig einen Mitgliedsbeitrag zu bezahlen, an Diskussionsabenden und Stammtischen teilzunehmen und womöglich für die Anliegen der Partei zu werben. Und sie machen sich damit auch die Positionen zu eigen, die in den Reden und Transparenten (im Fall von PEGIDA) und in den Programmen und Pressmitteilungen (im Fall der AfD) vertreten werden. Die Zuschreibung "Rechtspopulist" oder "Nazi" erfolgt also nicht auf der Basis unverseller oder unveränderbarer Eigenschaften. Daher handelt es sich aus meiner Sicht nicht um Hate Speech. Natürlich wollen die, die andere als "Nazi" bezeichnen, diese herabwürdigen und ausgrenzen und viele empfinden es als beleidigend, wenn sie als Nazis bezeichnet werden. Aber nicht jede Herabwürdigung und Ausgrenzung ist Hate Speech.
Es gehört zu den zahlreichen Selbstwidersprüchen der neuen Rechten, einerseits gegen eine vermeintliche Political Correctness ("politische Korrektheit") zu polemisieren, aber zugleich wie kaum eine andere Diskursgemeinschaft Kritik am öffentlichen Sprachgebrauch zu üben.
Vor der letzten Bundestgaswahl habe ich für ein Radiofeature von Kilian Pfeffer vom SWR den Sprachgebrauch in Pressemitteilungen der Bundesparteien verglichen (PDF). Eine Vergleichskategorie war, wie häufig die Parteien die Sprache selbst, d.h. die Form oder den Inhalt von Ausdrücken, selbst zum Thema machen. Ein recht einfaches zu operationalisierendes Maß hierfür ist, wie häufig die Parteien Ausdrücke in Anführungszeichen setzen, wie häufig sie einen Ausdruck mit einem vorangestellten "so genannt" (und orthographischen Varianten) rahmen. Beides sind Praktiken, mit denen man sich im Medium der Schrift von Inhalt oder Form eines Ausdrucks distanzieren kann. Schon frühere Studien haben gezeigt, dass extremistische Parteien wie die NPD besonders häufig dazu neigen, sich von der herrschenden Semantik zu distanzieren. Im Fall der nun im Bundestag vertretenen Parteien war das Ergebnis eindeutig:
Die AfD distanziert sich häufiger als alle anderen Parteien von den von ihr verwendeten Ausdrücken. Unter 10.000 Wörtern thematisiert sie im Durchschnitt rund 30 Wörter, fünf mehr als die CDU, die auf Platz zwei folgt. Am seltensten thematisieren SPD und Grüne Ausdrücke als problematisch.
Untersucht man, welche Ausdrücke im Vergleich zu anderen Parteien von der AfD besonders häufig in Anführungszeichen gesetzt oder mit einem "sogenannt" geframet werden, dann finden sich Begriffe, die der migrations- und linkskritische und populistische Ausrichtung der Partei zeigen. Zu den häufigsten Wörtern zählen Flüchtling, Energiewende, Antifa, Aktivist, Elite und politisch Korrektheit.
Mit der "politischen Korrektheit" ist es so eine Sache. Wie an anderer Stelle gezeigt, kam sie als politischer Kampfbegriff der Neuen Rechten nach Deutschland. Der Begriff verdichtet ein Strohpuppen-Argument, ein Argument, das ein Anliegen des politischen Gegners so verzerrt, dass es per se als unsinnig oder illegitim erscheint. Demnach werden bestimmte Aussagen nur aufgrund politischer Rücksichtnahme getätigt, andere aus denselben Gründen tabuisiert. Diese Rücksichtnahme führt aber dazu, dass die gemachte Aussage im Hinblick auf den Gegenstand, auf den sie Bezug nimmt, falsch ist; nur in politische Hinsicht ist sie wahr. Wer also die Wahrheit sagen möchte, der ist gezwungen, sich "politisch inkorrekt" auszudrücken, und wird ggf. zum Opfer sozialer Ächtung. Schuld an der vermeintlichen Unsagbarkeit des "sachlich Wahren" sind "Linke", "Kulturmarxisten", "Mainstreammedien", "radikale Minderheiten" etc. Soweit das Strohpuppenargument.
Angesichts der Tatsache, dass die AfD als parlamentarische Rechte am häufigsten den öffentlichen Sprachgebrauch kritisiert, ist es doch erstaunlich, dass sie sich so vehement gegen "politische Korrektheit" ausspricht. Wie jede, die Kritik übt, nimmt freilich auch die AfD für sich in Anspruch, diese Kritik im Namen der Wahrheit zu äußern. Die "Energiewende" ist in ihren Augen eben keine Energiewende sondern ein Schritt zur Deindustrialisierung Deutschlands.
Kürzlich erreichte mich unter dem Betreff "Präsupposionen, Populismus" die Zuschrift eines selbsterklärten AfD-Wählers zu jenem Ausdruck, der von Seiten der AfD am häufigsten thematisiert wird. Das Wort "Flüchtling", kritisiert er, sei Migranten "präsupponierend zugeschrieben" worden. Dies finde er insofern populistisch, als der Ausdruck nicht differenziert genug und geeignet sei, "Emotionen zu wecken sowie mit ihnen verbundene Handlungsdispositionen zu nutzen". Vereinfacht gesagt: Das Wort "Flüchtling" sei im öffentlich Diskurs pauschal für all jene verwendet worden, die im Zuge der Flüchtlingskrise nach Deutschland gekommen seien. Weil das Wort "Flüchtling" aber unterstelle, dass diese Menschen geflohen bzw. auf der Flucht seien, wecke es Mitleid und Anteilnahme und schaffe so Akzeptanz für politische Maßnahmen, beispielsweise für die Aufnahme und Unterstützung der zu uns kommenden Menschen. Entspechend fand der Zusender den Gebrauch des Wortes "Flüchtling" "sehr populistisch". In einem seiner Texte benutzt er "Migrant" als Gegenbegriff. Ich antwortete:
Die Frage, ob "Flüchtling" oder "Migrant" die treffender Bezeichnung gewesen wäre, ist sicher nicht ganz leicht zu beantworten. Und sicher haben Sie Recht, dass "Flüchting" bestimmte Prädikationen präsupponiert.
Betrachtet man allerdings die Verwendungsweise von "Migrant", dann ist es so, dass die Bezeichnung "Migrant" in der überwiegenden Zahl der Fälle in der Mediensprache dann verwendet wird, wenn man die reguläre Arbeitsmigration einschließt oder sich gar vorwiegend auf diese bezieht.
Ich denke, dass die Bezeichung "Migrant/Migrantin" daher nicht zutreffend, sogar irreführend gewesen wäre. Denn es ging ja in der Berichterstattung gerade um solche Menschen, die ohne Visum und Arbeitsgenehmigung nach Deutschland kamen und den Problemen, die sich daraus ergaben.
Ich bin kein Jurist, aber der Mehrzahl der Menschen, auf die sich die Berichterstattung bezog, wurde m.W. ein rechtlicher Status entweder nach Asylrecht (Asylbewerber), der Genfer Flüchtlingskonvention (Flüchtling) oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (subsidiärer Schutz) zugeschrieben. Insofern sind die Ausdrücke "Flüchtling" oder "Schutzsuchende", was ja auch häufiger verwendet wurde, durchaus im Hinblick auf die Referenz zutreffend und präziser als "Migrant". Ich sehe darin zunächst mal nichts Populistisches.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Zwar räumte der Zusender ein, "Flüchtling" sei einerseits ein durch rechtliche Urteile zugewiesenes Prädikat. Er wandte jedoch ein, dass die Bezeichnung "Flüchtling" alltagssprachlich eine andere Bedeutung habe und vor diesem Hintergrund die Zuschreibung eines Flüchtlingsstatus durch alltagsweltliche Beobachtungen hinterfragbar sei. Das Wort "Migrant" habe ihm nur als Beispiel für einen Oberbegriff für "Flüchtling" und verwandte Begriffe gedient, man könne stattdessen auch "Sich Bewegende" benutzen.
Was der Zusender (der übrigens freundlich und angenehm sachlich schrieb und das Wort "Linksintellektuelle" gerne in Anführungszeichen setzt) also fordert, ist, dass Medien juristisch adäquate Ausdrücke nicht nutzen sollten, weil diese dem Alltagsverständnis nicht gemäß seien und ihre Präsupposition verhindere, dass migrationskritisch eingestellte Menschen öffentlich das Asylrecht in seiner heutigen Form in Frage stellen könnten.
Dass der Alltagssprachgebrauch vielfältig ist und davon ausgegangen werden kann, dass gerade in umkämpften Diskursfeldern wie Zuwanderung und Asyl hier keine einheitliche Bedeutung für bestimmte Ausdrücke zu finden sind, lässt es meiner Meinung nach zweifelhaft erscheinen, den Sprachgebrauch in den Medien auf den Alltagssprachgebrauch zu verpflichten, ohne sie dem Verdacht auszusetzen, parteiisch zu sein. Darauf soll es hier aber nicht ankommen, sondern auf das Folgende.
Dem Sachverhalt adäquate Ausdrücke nicht verwenden, bloß weil sich eine politische Gruppe vom Diskurs ausgeschlossen fühlt - das ist exakt das, was die Neue Rechte als "politische Korrektheit" brandmarken würde und gerne auf dem "Müllhaufen der Geschichte" entsorgen würde, wie Alice Weidel auf dem Bundesparteitag der AfD 2017 in Köln forderte. Oder doch nicht? Die Forderung nach einem weniger gegenstandsadäquaten, dafür aber (für die neue Rechte) inklusiveren und anschlussfähigeren Sprachgebrauch, findet sich immer häufiger. Schon länger äußern rechte Parteien sich häufiger sprachkritisch als Parteien aus anderen politischen Lagern. Leben wir also in einer Zeit der politischen Korrektheit von Rechts?