Jeanine Isernhagen hat mich für den Artikel "Was Sprache als Waffe so gefährlich für uns alle macht" im Blog von HateAid interviewt. Das Interview, das wir wegen der Zeitverschiebung schriftlich geführt haben, dokumentiere ich hier.
In der Sprachwissenschaft definieren wir "Hassrede" etwas enger als im allgemeinen Sprachgebrauch. Nicht jede Ausgrenzung, Abwertung oder Beleidigung ist für die Sprachwissenschaft Hassrede, auch wenn sie Hass ausdrückt. Wer eine andere Person hasserfüllt als "dumme Sau" bezeichnet, beleidigt diese zwar, Hassrede ist es aus sprachwissenschaftlicher Perspektive jedoch nicht. Ein wichtiges Merkmal von Hassrede ist, dass die Abwertung über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe motiviert ist. Allerdings sprechen wir nur dann von Hassrede, wenn der Gruppe diese Merkmale als natürlich und unveränderlich zugeschrieben werden. Deswegen ist die Bezeichnung "Nazi" zwar eine Beleidigung, aber keine Hassrede, denn Einstellungen oder politische Haltungen sind nicht angeboren. Wer dagegen in Bezug auf Geflüchtete aus Afghanistan von unüberbrückbaren Kulturunterschieden und kultureller Inkompatibilität spricht (wie der ehemalige AfD-Sprecher Jörg Meuthen dies beispielsweise getan hat), der essenzialisiert Kultur und erklärt sie zum unveränderlichen Bestandteil der menschlichen Natur.
Natürlich ist bei Äußerungen nicht immer klar, woher sie ihre abwertende Kraft beziehen. Ein Beispiel: Als der Boxer Graciano Rocchigiani seinen Gegner Dariusz Michalczewski als "dummen Polen" bezeichnete, behauptete er anschließend, die beleidigende Kraft seiner Äußerung verdanke sich nicht der Ethnisierung als Pole; vielmehr gebe es kluge und dumme Polen, Michalczewski sei eben ein dummer. Die Öffentlichkeit allerdings verstand das Wort "Pole" mehrheitlich als sog. Ethnophaulismus, also als ein ethnienbezogenes Beleidigungswort, und Rocchigianis Erkärungen als Schutzbehauptung.
Hassrede ist, das zeigt das Beispiel, also keine objektive Eigenschaft sprachlicher Ausdrücke. Ob es sich in diesem und ähnlichen Fällen um Hassrede handelt, ist auch nicht nur eine Frage, ob eine Beleidigungsabsicht vorlag oder sich die adressierte Person beleidigt fühlt, sondern vor allem eine Frage, wie Dritte bzw. die Öffentlichkeit Äußerungen deuten.
Hassrede hat einen Einfluss auf unsere Vorstellungen von der sozialen Ordnung. Wer gehört dazu, wer ist marginalisiert? Wer legt die Werte einer Gesellschaft fest? Welches zukünftige politische Handeln wird dadurch plausibel? Man kann deshalb unterscheiden zwischen Effekten für die Betroffenen, für die Äußernden und für die Gesellschaft.
Für die Betroffenen: Von Hassrede Betroffene werden nicht nur abgewertet und marginalisiert, sondern ihnen wird gesagt, dass sich daran auch nichts ändern wird und kann, weil die behaupteten negativen Eigenschaften ihnen quasi natürlich zukommen. Wer häufiger von Hassrede betroffen ist, neigt zudem dazu, Einzeläußerungen als dominantes Framing der ganzen Gesellschaft wahrzunehmen, was zu self-enclosure führen kann. Gerade deshalb ist Unterstützung für Adressatinnen und Adressaten von Hassrede wichtig.
Für die Äußernden: Sie werten sich durch Hassrede selbst auf. Sie vergemeinschaften sich im Modus von Beschimpfung und Herabwürdigung auf Social-Media-Plattformen. Zudem folgt Hassrede, zumindest von oder mit Bezug auf Personen des öffentlichen Lebens, oft einem Resonanzkalkül. Durch gezielten Gebrauch herabwürdigender Äußerungen lenken die Äußernden die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Agenda.
Für die Gesellschaft: Wer Hassrede benutzt, beruft sich immer auf in Teilen einer Gesellschaft anerkannte Vorurteilen gegenüber Gruppen (nämlich, dass sie quasi natürlich bestimmte Eigenschaften haben). Hassrede hat deshalb immer das Potenzial, diese Stereotype in Erinnerung zu rufen, und appelliert an die Zeugen von Hassrede, sie als gerechtfertigt zu bestätigen. Hassrede kann also gesellschaftliche Ausgrenzung bzw. Marginalisierung fortscheiben und verstärken.
Einerseits setzen sich Wahrnehmungsmuster fest, in denen Einzelpersonen immer schon als Vertreter:innen von Gruppen fungieren. Das wird beispielsweise an den hysterischen Mutmaßungen über die Herkunft von Täter:innen sichtbar, die unmittelbar nach einer Tat auf Social Media losgehen, als sei die Herkunft eine hinreichende Erklärung dafür, warum ein Verbrechen verübt wurde.
Was ich auf vielen rechten Plattformen beobachte ist,
- dass rechte Gewalt verharmlost wird,
- dass verschwörungstheoretische behauptet wird, es seien gar keine Rechten gewesen,
- dass Gewalt von Rechts als bedauerliche, aber nachvollziehbare Reaktion von benachteiligten und unterdrückten Deutschen entschuldigt wird,
- oder sogar dass Gewalt gegen Minderheiten als legitime Notwehr dargestellt wird.
Sich selbst sprachsensibel zu verhalten und zu signalisieren, dass man das Gegenüber als Individuum und nicht als Vertreter:in einer Gruppe auffasst, ist sicherlicher ein erster wichtiger Schritt. Unsensiblen Sprachgebrauch anderer durch Bewusstmachung der Betroffenenperspektive zu thematisieren, kann auch ein Mittel sein, kann aber auch zu Reaktanzen führen.
Ich bin allerdings nicht sicher, ob "ankämpfen" gegen Hassrede immer die richtige Strategie ist, zumindest bei denjenigen, die absichtsvoll Hassrede gebrauchen. In manchen Situationen kann Gegenrede eine richtige Entscheidung sein. Wir sollten aber stets abwägen, ob wir damit nicht das Resonanzkalkül der Benutzer:innen von Hassrede bedienen. Denn Gegenrede wertet den Hetzer zum Gesprächspartner auf und verschafft ihm Aufmerksamkeit. Das wirksamste Mittel gegen Hassrede ist immer noch, jenen, die eine solche Sprache gebrauchen, die Bühne zu nehmen, auf die sie sich mit ihrer Hetze zu stellen versuchen. Über nichts beklagen sich Hetzer:innen mehr als über Nichtbeachtung. Das heißt freilich nicht, dass man Betroffene von Hassrede nicht unterstützen sollte. Im Gegenteil: Sie verdienen Aufmerksamkeit, Solidarität und Wertschätzung.
Diejenigen, die beleidigen und diskriminieren wollen, werden immer sprachliche Mittel finden, dies auch zu tun. Wichtig ist daher, gesellschaftliche Stereotype zu entkräften und Vorstellungen von biologisch bedingter sozialer Ungleichheit immer kritisch zu hinterfragen. In Bezug auf Sprache scheint mir wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass Sprechen Handeln ist und dass wir mit Sprache Wirklichkeit schaffen. Ein größeres Bewusstsein über die Effekte ihres Sprechens dürfte bei einigen auch zu einer höheren Sensibilität im Sprachgebrauch führen.
Dafür gibt es aus meiner Sicht zwei Gründe.
Zum einen ist Aufmerksamkeit in Zeiten der digitalen Öffentlichkeit ein knappes Gut geworden. Während es früher überhaupt schwierig war, in die Medien zu kommen, kann sich heute zwar jeder jederzeit öffentlich äußern, aber die Chance Gehör zu finden ist entsprechend geringer. Undifferenziert, herabwürdigend oder ausgrenzend zu sprechen hat das Potenzial, dass sich andere Menschen darüber erregen. Das führt zu Anschlusskommunikation, die Aufmerksamkeit auf das Gesagte und die Person, die es gesagt hat, lenkt. Es sind oft Resonanzkalküle, die Bewegungen wie Pegida oder Politiker dazu veranlassen, undifferenzierte, teils sogar tabuisierte Dinge zu sagen getreu dem Motto "There is no such thing as bad publicity".
Andererseits bietet die immer wieder behauptete Vorstellung, die Meinungsfreiheit sei durch eine übertriebene 'Political Correctness' in Gefahr, Politikerinnen und Politikern die Möglichkeit, sich als unabhängige, autonome Persönlichkeit zu inszenieren, die von 'dem Establishment' oder einer vermeintlich vom Volk entfremdeten 'politischen Klasse' noch nicht korrumpiert ist. Dazu muss man wissen, dass der Begriff der 'Political Correctness' von rechtskonservativen Kreisen in den USA geprägt wurde, um Bemühungen um eine größere Sprachsensibilität als illegtim erscheinen zu lassen und sich gegen Kritik zu immunisieren. Die Bezeichnung 'politisch korrekt' unterstellt, dass etwas nur aufgrund politisch motivierter Rücksichtsnahmen 'korrekt' sei, gemessen an 'der Wirklichkeit' aber falsch. Diese Ideologie macht Sätze wie "Truth is the new Hate Speech" ("Wahrheit ist die neue Hassrede") plausibel. Wer Dinge sagt, die vom vermeintlichen Establishment als Hassrede bezeichnet werden, der sagt also die Wahrheit entgegen aller Widerstände.
Die Schlitzaugen-Rede Günther Oettingers war sicher dem Amt und der Institution, für die er steht, in besonderer Weise unangemessen.
Ich denke nicht, dass wir undifferenzierter sprechen als früher. Politische Auseinandersetzungen waren auch früher nicht gerade von Differenzierung und einem rationalen Abwägen von Argumenten geprägt. Die strategische und emotionale Aufladung von Konflikten war schon immer der dominante Modus der öffentlichen politischen Kommunikation. Wir erleben vielleicht gerade einen Backlash, aber in der Tendenz ist die Sprachsensibilität in unserer Gesellschaft und besonders auch in der Politik gewachsen.
Das ist schwierig zu beantworten. Sicher ist es so, dass soziale Netzwerke davon leben, dass Menschen sich ständig exponieren und eine fortwährende Identitätspolitik betreiben. Viele Menschen machen ihr Selbstwertgefühl und ihre Selbstachtung damit stark abhängig von Dritten, ja teilweise sogar von Fremden und entkoppeln es so vom privaten, individuellen Selbstbezug. Das macht angreifbar und ein Angriff wiegt subjektiv sicher schwerer als zehn 'Likes'.
Zunächst einmal: Man kann nicht vorurteilsfrei sprechen und immer, wenn wir über jemanden sprechen, kategorisieren wir diese Personen und Gruppen schon dadurch, dass wir Wörter benutzen, die bestimmte Aspekte an ihnen hervorheben und relevant setzen. Auch das kann man nicht vermeiden. Gleichwohl besteht wohl Konsens darüber, dass man normalerweise darum bemüht sein sollte, Menschen nicht zu verletzen oder auszugrenzen, wenn man mit ihnen oder über sie spricht.
Auf die Frage aber, wann eine sprachliche Äußerung denn eigentlich verletzend oder diskriminierend ist, gibt es unterschiedliche Antworten.
Einige sind der Ansicht, dass die Macht zur Definition, was eine verletzende Äußerung ist, allein bei denen liegt, die sich als Opfer sprachlicher Gewalt fühlen. Ich halte diese Perspektive nicht für hilfreich, weil sie letztlich behauptet, dass die verletzende Kraft von Äußerungen unabhängig von den Absichten des Sprechers und dem Gehalt der Äußerung ist. Entsprechend wäre die Äußerung letztlich nicht mehr als eine Projektionsfläche innerpsychischer Konflikte des Adressierten. Es wäre daher leicht, sprachliche Gewalt als Paranoia ihrer Opfer abzutun.
Umgekehrt ist es sicher auch nicht zutreffend, dass ich jemanden nur dann beleidige, wenn ich mit einer Äußerung dies auch beabsichtige. Günther Oettingers Rede von den Schlitzaugen war offenbar nicht beleidigend intendiert, wurde aber dennoch von vielen so wahrgenommen. Deshalb war es auch richtig, dass er sich dafür entschuldigt hat.
Das zeigt schon, dass die verletzende Kraft sprachlicher Äußerungen sich nur aus einem Zusammenwirken mehrerer Faktoren erklären und die Wahrnehmung durch Dritte dabei immer eine wichtige Rolle spielt. Wer empathisch spricht und darauf achtet, wie seine Aussagen wirken, wird nicht viel falsch machen.
Hassrede und Polemik sind Ressourcen, mit denen Aufmerksamkeit erzeugt und Politik gemacht wird. Weil es bei ihnen nicht um Wahrheit geht, sind Argumente auch nicht anschlussfähig. Aus meiner Sicht muss ein Bewusstsein für diese Form der Politik geschaffen werden und die Art der Berichterstattung über verbale Entgrenzungen sollte sich entsprechend ändern, damit die Resonanzkalküle der Provokateure nicht mehr aufgehen.
Die Fragen stellte Letitia Witte von der Katholischen Nachrichten-Agentur. Das Interview erschien leicht bearbeitet u.a. im Domradio.