Nicht jede Beleidigung und nicht jede Hetze ist Hate Speech. Wenn ich einen Autofahrer, der mir die Vorfahrt nimmt, als "Arschloch" bezeichne, dann beleidige ich ihn zwar. Aber Hate Speech ist es deswegen noch nicht, selbst wenn es mein alter Bekannter Gerd ist, dem ich schon länger in Feindschaft verbunden bin, den ich vielleicht sogar hasse.
Hate Speech ist eine Sonderform der Herabwürdigung. Eine Herabwürdigung besteht darin, dass man einer Person eine soziale Identität zuschreibt, die von der Mehrheit der Gesellschaft negativ beurteilt wird, eine unwerte, moralisch verwerfliche oder randständige Identität.
Diese Zuschreibung, auch wenn sie rein sprachlich ist, ist mehr als bloß Worte. Sie hat Folgen im realen Leben. Mit ihr verbunden sind Vorstellungen davon, wie man mit Personen, denen diese Identität zugeschrieben wird, umgehen kann oder sogar umzugehen hat. Ein "Arschloch" zu sein, ist für die meisten Menschen keine positive Eigenschaft und wer als ein Arschloch gilt, dem begegnet man mit wenig Freundlichkeit, den grenzt man aus, den straft man mit Missachtung.
Im Unterschied zu anderen Formen der Hearbwürdigung liegt Hate Speech dann vor, wenn die Herabwürdigung ihre herabwürdigende Kraft daraus bezieht, dass eine Person als Vertreterin einer Gruppe adressiert wird und ihr negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die dieser Gruppe vermeintlich kollektiv, universell und unveränderbar zukommen.
Das klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach: Wer eine Person als "geldgierigen Juden" bezeichnet, der kommuniziert im Modus von Hate Speech, indem er einer Person eine negativ bewertete Eigenschaft zuschreibt (geldgierig sein) und diese Zuschreibung damit begründet, dass die Person Angehörige einer Gruppe sei, für die Geldgier vermeintlich eine konstitutive Eigenschaft ist. Wenn im Kontext von PEGIDA Flüchtlinge aus den Maghreb-Staaten "triebgesteuerte afrikanische Fickilanten" genannt werden, dann ist dies Hate Speech, denn die Bezeichnung schreibt Personen eine negativ bewertete Eigenschaft zu (nämlich zum Zweck der Triebbefridigung missbräuchlich politisches Asyl beantragt zu haben) und begründet dies damit, dass sie zur Gruppe der Afrikaner gehörten, deren Angehörige quasi von Natur aus triebgesteuert seien.
Daran ist natürlich so ziemlich alles falsch: Selbstverständlich ist jede Person als Individuum zu behandeln, ihre Persönlichkeit ist nicht durch die Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe determiniert, die Gruppen, zu deren Vertretern einzelne Personen sprachlich gemacht werden, sind soziale Konstrukte und daher auch nicht durch natürliche, bei allen Vertretern vorhandene Eigenschaften abgrenzbar, und so weiter und so fort.
Damit eine Äußerung den beabsichtigten herabwürdigenden Effekt hat, ist es nicht genug, sie öffentlich oder zumindest für den zu Beleidigenden wahrnehmbar zu äußern. Sie könnte als irrelavant ignoriert oder als Zeichen einer nicht normgemäßen Geistesverfassung des Beleidigers zurückgewiesen werden. Damit die Zuschreibung einer marginalisierten sozialen Identität gelingt, muss sie von Dritten, die Zeuge der herabwürdigenden Äußerung sind, anerkannt werden.
Nur wenn eine relevante Gruppe von Menschen die Zuschreibung der negativen Eigenschaft als zutreffend anerkennt, hat dies Folgen für die soziale Identität der Betroffenen. Das unterscheidet sprachliche Gewalt auch von physischer Gewalt: Physische Gewalt kann man aufzwingen, symbolische Gewalt bedarf der Anerkennung durch Dritte. Damit Hate Speech wirken kann, braucht sie daher die Öffentlichkeit, den Skandal. Ohne die Claqueure auf den Plätzen, ohne die Likes auf Facebook hätte Hate Speech keine Chance.
Die Chance auf Anerkennung steigt, wenn die Herabwürdigung Bezug nimmt auf Vorurteile und auf Wissen, das in einer Gesellschaft ganz selbstverständlich und unhinterfragt als wahr gilt. Frauen sind "das schwache Geschlecht", Schwarze sind "faule, sinnliche Menschen" mit "Rhytmus im Blut", Japaner sind "verklemmt", Asiaten "sehen alle gleich aus", Deutsche sind "ordentlich" und "arbeitsam".
Noch größer sind die Chancen auf Anerkennung, wenn eine Gruppe selbst über die diskursive Macht verfügt, kollektive Vorstellungen davon zu erzeugen, was als wahres Wissen gilt. Die Echokammern der sozialen Netzwerke, in denen jeder geteilte Informationsschnipsel beispielsweise zur Konstruktion eines Wissens um den vermeintlich kriminellen Charakter des Ausländers beiträgt und jeder Widerspruch als Manipulation der Lügenpresse gedeutet wird, sind nützliche Kraftzentren der Produktion von Normalitätsvorstellungen.
Aus dem bisher Gesagten sollte klar sein, dass im Modus von Hate Speech geäußerte Beiträge zu öffentlichen Debatten verzichtbar sind und in den meisten Fällen kontraproduktiv wirken. Menschen auf ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe und auf negative Eigenschaften zu reduzieren, die vermeintlich allen Menschen dieser Gruppe quasi natürlich und unveränderlich zukommen, ermöglicht keine Verständigung und löst keine Probleme, sondern führt zu Entwürdigung, Ausgrenzung und Feindseligkeiten. Man sollte meinen, dass niemand ernsthaft dagegen sein kann, Hate Speech sozial zu ächten. Warum wird um Hate Speech dennoch so leidenschaftlich gestritten? Dafür gibt es drei Gründe.
Erstens wird die Bezeichnung "Hate Speech" im öffentlichen Diskurs auch für Phänomene verwendet, die ebenfalls unschön, aber kein Hate Speech im Sinn der obigen Begriffsbestimmung sind, etwa für Pöbeleien ad personam oder allgemein abfällige Äußerungen über Gruppen, deren abwertende Kraft sich nicht aus der Bezugnahme auf quasi-naturalisierte Gruppeneigenschaften speist. Weil aber der Vorwurf der Hassrede schwer wiegt, provoziert eine zu starke Ausweitung des Begriffs Widerstand.
Der Streit um Hate Speech entfacht sich zweitens daran, dass gesellschaftlich umstritten ist, was eigentlich als eine Herabsetzung gelten kann. Zwar suggeriert die obige Definition Eindeutigkeit im Hinblick darauf, welche spezifische Art der verbalen Herabsetzung den Charakter von Hate Speech hat und welche nicht. Allerdings gibt sie kein objektives Kriterium für die Identifizierung jener Eigenschaften an, die geeignet sind, Personen eine marginalisierte soziale Identität zuzuschreiben. Ist es bereits herabwürdigend, die Herkunft, den Glauben oder die sexuelle Orientierung einer Person in einem Gespräch relevant zu setzen? Ist die Zuschreibung von Eigenschaften wie "weiblich", "dick", "behindert", "türkisch" oder "glatzköpfig" geeignet gruppenspezifische negative Stereotype zu transportieren und damit eine Person abzuwerten und zu marginalisieren? Drückt der Satz "Was sagst du als Frau dazu?" ein argloses Interesse an einer genderspezifischen Sichtweise aus? Oder kommt mit ihm zum Ausdruck, dass für den Frager die Sichtweise seiner Gegenüber ausschließlich von ihrem Frausein bestimmt ist, wobei "weiblich" das andere, von der Norm abweichende Geschlecht ist?
Drittens ist die Frage umstritten, auf welche Weise Hate Speech eigentlich realisiert werden muss, um Hate Speech zu sein. Kann man nur dann von Hate Speech sprechen, wenn eine Person oder Personengruppe direkt angesprochen wird? Oder sind auch indirekte Formen der Bezugnahme auf Personen und Gruppen wie das Vorkommen des N-Wortes in einem Kinderbuch Hate Speech? Oder sind gar bildliche Ausdrücke wie "der Vergleich hinkt" herabwürdigend, weil sie etwas Falsches, Defizientes mit einer körperlichen Einschränkung verknüpfen?
Diese Fragen lassen sich nicht objektiv entscheiden. Welche Art der sprachlichen Äußerung als Herabsetzung gilt, welche Zuschreibung zu einer marginalisierten sozialen Identität führt ist das Ergebnis gesellschaftlicher Debatten und wir sind mitten drin.
Es wäre aber zu einfach, die Debatte um Hate Speech ausschließlich als einen Kampf um Wörter zu beschreiben. Bei ihr geht es um viel mehr: Sie aktualisiert Konflikte um Partizipation, um Deutungsmacht und damit um die soziale Ordnung.
Wenn über die Frage gestritten wird, ob die Bezeichnung "Fettleibigkeit" noch verwendet werden sollte oder nicht, dann geht es auch um die Frage, welche negativen Eigenschaften mit dieser Zuschreibung transportiert werden und welche marginalisierenden Effekte diese Zuschreibung für die Betroffenen daher haben kann, sei es bei der Arbeitsplatzsuche, im Gesundheitssystem oder beim Knüpfen sozialer Beziehungen. Mit der Diskussion um die Bezeichnung gerät also immer auch die Frage in den Blick, ob die Bezeichneten eine marginalisierte Gruppe sind, deren Mitgliedern ohne Ansehen der Person negative Eigenschaften zugeschrieben werden, oder nicht.
Wir sollten nicht jenen auf den Leim gehen, die behaupten, die Stigmatisierung von Hate Speech diene lediglich dazu, die Wahrheit zu unterdrücken und die demokratische Debattenkultur einzuschränken. Das Gegenteil ist der Fall: Über die Grenzen von Hate Speech sollten wir leidenschaftlich debattieren, denn die Debatte ist ein Medium der Verständigung darüber, wie unsere Gesellschaft aussehen soll. Ganz gleich zu welchem Ergebnis wir im Einzelfall auch kommen: Es ist eine Debatte mit und über jene, die nicht ins Normalitätsraster aller passen und die sich bislang wenig Gehör verschaffen können. Und schon dies ist ein Schritt hin zu einer größeren Meinungsvielfalt und einer inklusiveren Gesellschaft.
Jeanine Isernhagen hat mich für den Artikel "Was Sprache als Waffe so gefährlich für uns alle macht" im Blog von HateAid interviewt. Das Interview, das wir wegen der Zeitverschiebung schriftlich geführt haben, dokumentiere ich hier.
In der Sprachwissenschaft definieren wir "Hassrede" etwas enger als im allgemeinen Sprachgebrauch. Nicht jede Ausgrenzung, Abwertung oder Beleidigung ist für die Sprachwissenschaft Hassrede, auch wenn sie Hass ausdrückt. Wer eine andere Person hasserfüllt als "dumme Sau" bezeichnet, beleidigt diese zwar, Hassrede ist es aus sprachwissenschaftlicher Perspektive jedoch nicht. Ein wichtiges Merkmal von Hassrede ist, dass die Abwertung über die Zugehörigkeit zu einer Gruppe motiviert ist. Allerdings sprechen wir nur dann von Hassrede, wenn der Gruppe diese Merkmale als natürlich und unveränderlich zugeschrieben werden. Deswegen ist die Bezeichnung "Nazi" zwar eine Beleidigung, aber keine Hassrede, denn Einstellungen oder politische Haltungen sind nicht angeboren. Wer dagegen in Bezug auf Geflüchtete aus Afghanistan von unüberbrückbaren Kulturunterschieden und kultureller Inkompatibilität spricht (wie der ehemalige AfD-Sprecher Jörg Meuthen dies beispielsweise getan hat), der essenzialisiert Kultur und erklärt sie zum unveränderlichen Bestandteil der menschlichen Natur.
Natürlich ist bei Äußerungen nicht immer klar, woher sie ihre abwertende Kraft beziehen. Ein Beispiel: Als der Boxer Graciano Rocchigiani seinen Gegner Dariusz Michalczewski als "dummen Polen" bezeichnete, behauptete er anschließend, die beleidigende Kraft seiner Äußerung verdanke sich nicht der Ethnisierung als Pole; vielmehr gebe es kluge und dumme Polen, Michalczewski sei eben ein dummer. Die Öffentlichkeit allerdings verstand das Wort "Pole" mehrheitlich als sog. Ethnophaulismus, also als ein ethnienbezogenes Beleidigungswort, und Rocchigianis Erkärungen als Schutzbehauptung.
Hassrede ist, das zeigt das Beispiel, also keine objektive Eigenschaft sprachlicher Ausdrücke. Ob es sich in diesem und ähnlichen Fällen um Hassrede handelt, ist auch nicht nur eine Frage, ob eine Beleidigungsabsicht vorlag oder sich die adressierte Person beleidigt fühlt, sondern vor allem eine Frage, wie Dritte bzw. die Öffentlichkeit Äußerungen deuten.
Hassrede hat einen Einfluss auf unsere Vorstellungen von der sozialen Ordnung. Wer gehört dazu, wer ist marginalisiert? Wer legt die Werte einer Gesellschaft fest? Welches zukünftige politische Handeln wird dadurch plausibel? Man kann deshalb unterscheiden zwischen Effekten für die Betroffenen, für die Äußernden und für die Gesellschaft.
Für die Betroffenen: Von Hassrede Betroffene werden nicht nur abgewertet und marginalisiert, sondern ihnen wird gesagt, dass sich daran auch nichts ändern wird und kann, weil die behaupteten negativen Eigenschaften ihnen quasi natürlich zukommen. Wer häufiger von Hassrede betroffen ist, neigt zudem dazu, Einzeläußerungen als dominantes Framing der ganzen Gesellschaft wahrzunehmen, was zu self-enclosure führen kann. Gerade deshalb ist Unterstützung für Adressatinnen und Adressaten von Hassrede wichtig.
Für die Äußernden: Sie werten sich durch Hassrede selbst auf. Sie vergemeinschaften sich im Modus von Beschimpfung und Herabwürdigung auf Social-Media-Plattformen. Zudem folgt Hassrede, zumindest von oder mit Bezug auf Personen des öffentlichen Lebens, oft einem Resonanzkalkül. Durch gezielten Gebrauch herabwürdigender Äußerungen lenken die Äußernden die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihre Agenda.
Für die Gesellschaft: Wer Hassrede benutzt, beruft sich immer auf in Teilen einer Gesellschaft anerkannte Vorurteilen gegenüber Gruppen (nämlich, dass sie quasi natürlich bestimmte Eigenschaften haben). Hassrede hat deshalb immer das Potenzial, diese Stereotype in Erinnerung zu rufen, und appelliert an die Zeugen von Hassrede, sie als gerechtfertigt zu bestätigen. Hassrede kann also gesellschaftliche Ausgrenzung bzw. Marginalisierung fortscheiben und verstärken.
Einerseits setzen sich Wahrnehmungsmuster fest, in denen Einzelpersonen immer schon als Vertreter:innen von Gruppen fungieren. Das wird beispielsweise an den hysterischen Mutmaßungen über die Herkunft von Täter:innen sichtbar, die unmittelbar nach einer Tat auf Social Media losgehen, als sei die Herkunft eine hinreichende Erklärung dafür, warum ein Verbrechen verübt wurde.
Was ich auf vielen rechten Plattformen beobachte ist,
- dass rechte Gewalt verharmlost wird,
- dass verschwörungstheoretische behauptet wird, es seien gar keine Rechten gewesen,
- dass Gewalt von Rechts als bedauerliche, aber nachvollziehbare Reaktion von benachteiligten und unterdrückten Deutschen entschuldigt wird,
- oder sogar dass Gewalt gegen Minderheiten als legitime Notwehr dargestellt wird.
Sich selbst sprachsensibel zu verhalten und zu signalisieren, dass man das Gegenüber als Individuum und nicht als Vertreter:in einer Gruppe auffasst, ist sicherlicher ein erster wichtiger Schritt. Unsensiblen Sprachgebrauch anderer durch Bewusstmachung der Betroffenenperspektive zu thematisieren, kann auch ein Mittel sein, kann aber auch zu Reaktanzen führen.
Ich bin allerdings nicht sicher, ob "ankämpfen" gegen Hassrede immer die richtige Strategie ist, zumindest bei denjenigen, die absichtsvoll Hassrede gebrauchen. In manchen Situationen kann Gegenrede eine richtige Entscheidung sein. Wir sollten aber stets abwägen, ob wir damit nicht das Resonanzkalkül der Benutzer:innen von Hassrede bedienen. Denn Gegenrede wertet den Hetzer zum Gesprächspartner auf und verschafft ihm Aufmerksamkeit. Das wirksamste Mittel gegen Hassrede ist immer noch, jenen, die eine solche Sprache gebrauchen, die Bühne zu nehmen, auf die sie sich mit ihrer Hetze zu stellen versuchen. Über nichts beklagen sich Hetzer:innen mehr als über Nichtbeachtung. Das heißt freilich nicht, dass man Betroffene von Hassrede nicht unterstützen sollte. Im Gegenteil: Sie verdienen Aufmerksamkeit, Solidarität und Wertschätzung.
Diejenigen, die beleidigen und diskriminieren wollen, werden immer sprachliche Mittel finden, dies auch zu tun. Wichtig ist daher, gesellschaftliche Stereotype zu entkräften und Vorstellungen von biologisch bedingter sozialer Ungleichheit immer kritisch zu hinterfragen. In Bezug auf Sprache scheint mir wichtig, den Menschen zu vermitteln, dass Sprechen Handeln ist und dass wir mit Sprache Wirklichkeit schaffen. Ein größeres Bewusstsein über die Effekte ihres Sprechens dürfte bei einigen auch zu einer höheren Sensibilität im Sprachgebrauch führen.
Von Zeit zu Zeit erreichen den Betreiber dieses Blogs Zuschriften von Leserinnen und Lesern. Meistens handelt es sich um Meinungsbeiträge, die sich auf die Kompetenz und den Charakter des Betreibers richten. Solche Zuschriften lege ich gerne im Ordner "Beleidigungen / Beispiele" ab und verwende sie dann anonymisiert in Lehrveranstaltungen zur Freude der Studierenden. Andere Zuschriften zeigen echtes Interesse und ich möchte mich an dieser Stelle bei allen bedanken, die sich mit dem Thema so intensiv beschäftigen, dass sie - wie ich auch - echten Klärungsbedarf haben. Nicht immer komme ich dazu, sofort zu antworten. Die Antwort auf die letzte Zuschrift poste ich aber gerne im Blog, weil sie einige sehr interessante Fragen aufwirft.
Die Bedeutung von Wörtern kann man meiner Meinung nacht nicht ein für alle Mal und für alle verbindlich festlegen, zumindest nicht in einer Sprache, die täglich benutzt wird. Ohne jetzt allzu sprachtheoretisch werden zu wollen: Ohne eine gewisse Flexibilität in der Bedeutung und ohne die unscharfen Grenzen könnten wir Wörter gar nicht auf neue Sachverhalte anwenden. Selbst im Bereich des Rechts kann man die Bedeutung von Ausdrücken zwar bis zu einem gewissen Grad festschreiben, es bedarf aber immer noch der Rechtsprechung, um zum Beispiel zu klären, mit welchem Begriff ein bestimmter Sachverhalt adäquat gefasst wird. So ist der Unterschied zwischen Mord und Totschlag in §211f StGB zwar einigermaßen deutlich bestimmt (wobei es natürlich Auslegungssache und damit ein Ergebnis von Rechtsprechung ist, was "niedrige Beweggründe" sind), ob in einem konkreten Fall das eine oder andere vorliegt, ist damit aber immer noch nicht klar und Gerichte können diesbezüglich zu unterschiedlichen Urteilen kommen. Auch in der Wissenschaft betrachten wir Begriffe als Instrumente, mit denen wir die Wirklichkeit erschließen. Und das Ringen um jene Definition, die das am besten tut, ist nicht unabhänhig von dem Zweck, den man mit der eigenen Forschung verfolgt. Deshalb macht man in wissenschaftlichen Publikationen normalerweise die Forschungsinteressen transparent und erklärt in Auseinandersetzung mit anderen, bisher vorgeschlagenen Definitionen, warum man sich für welche Definition eines Begriffs entscheidet. Aber in der Wissenschaft verläuft die Diskussion meistens einigermaßen sachlich. Das dürfte vor allem daran liegen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestimmte Grundüberzeugungen teilen und sich auf bestimmte Verfahren verpflichtet fühlen. Im Umkehrschluss ist es vielleicht so, dass die Diskussionen deshalb so sehr aus dem Ruder laufen, weil gesellschaftlich dieser Konsens nicht mehr für alle Geltung zu haben oder auch nur erstrebenswert zu sein scheint. Dazu mehr in meiner Antwort auf Frage 3.
Ein festes Definitionsbuch hieße, dass es eine herrschende Semantik gibt, die jede bzw. jeder anzuerkennen habe. Das wird so nicht funktionieren. Gerade in politischen Fragen ist jeder Begriff ein Medium, die Welt so zu beschreiben, wie es den eigenen politischen Ansichten entspricht. Deshalb ist jede Diskussion um Worte auch eine Frage, wie die Wirklichkeit verfasst ist. Und jeder politische Akteur möchte gerne seine Sprachregelung durchsetzen und für alle verbindlich machen - und mit ihr seine Interpretation der Welt. "Hetzjagd" oder "Jagdsezenen" oder "verständliche Reaktion trauernder Bürger", "Betreuungsgeld" oder "Herdprämie", "beispielloser Völkermord" oder "Fliegenschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte" konstruieren jeweils den Sachverhalt auf sehr unterschiedliche Arten und Weisen. Wenn Sie so wollen: Menschen, die die eine oder andere Bezeichnung benutzen, reden auch tatsächlich über zwei verschiedene Dinge, wie Sie es in Frage 1 genannte haben, Und jede Bezeichnung legitimiert andere politische Maßnahmen oder fordert geradezu dazu auf. Solche Bezeichnungskonkurrenzen verweisen auf grundlegende Differenzen in der Konstruktion von Wirklichkeiten und treten in gleicher Weise auf, wenn man versucht, Dinge zu definieren. Über Begriffe zu diskutieren, wird uns wohl nicht erspart bleiben. Denn es geht dabei um viel mehr als um Worte.
Um eine Diskussionskultur wie unter Steinzeitmenschen (obwohl: vielleicht waren die ja viel gesitteter, als wir uns ausmalen) zu verhindern, können Regeln sicher hilfreich sein. Das können formale Regeln sein oder auch diskursethische (wie eine Verpflichtung auf Rationalität, Konsensorientierung, Gemeinwohlorientierung etc.). Allerdings zeigt die Geschichte, dass das Durchbrechen von solchen Gesprächsordnungen immer auch ein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist, insbesondere von jenen, die glauben, keine Stimme zu haben und sich gegen einen übermächtigen Gegner behaupten zu müssen. So war es bei den 68ern, am Anfang bei den Grünen, so ist es heute bei den meisten Populisten, die sich nach Ansicht von Politikwissenschaftlern "parasitär" zu den Regeln des demokratischen Diskurses verhalten (man denke nur an die zahlreichen Unwahrheiten, die Trump in seiner Amtszeit schon verbreitet hat, und seinen Kommunikationsstil). Ich denke, wir müssen uns damit abfinden, dass ein Teil des politischen Spektrums sich davon verabschiedet hat, einen Konsens suchen zu wollen und eingestandenermaßen von der Revolution träumt. Entsprechend rechne ich nicht damit, dass sich dieser Teil auf einen Konsens zu einer geregelten politischen Auseinandersetzung verpflichten ließe, noch sich an einer ernst gemeinten Suche nach einem solchen Konsens beteiligen würde.
Ist die Titulierung von Personen als "Nazi" oder "Rechtspopulist" nach "meiner" Definition Hassrede? Ich glaube, da verstehen Sie mich falsch. Ich schreibe: "Im Unterschied zu anderen Formen der Hearbwürdigung liegt Hate Speech dann vor, wenn die Herabwürdigung ihre herabwürdigende Kraft daraus bezieht, dass eine Person als Vertreterin einer Gruppe adressiert wird und ihr negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die dieser Gruppe vermeintlich kollektiv, universell und unveränderbar zukommen." Entscheidend ist der letzte Teil der Bestimmung: Wenn ich einer Person, weil sie schwarze Hautfarbe hat oder in einem Maghreb-Staat geboren wurde und aufgewachsen ist, nur wegen ihres Aussehens oder ihrer Herkunft per se negative Eigenschaften zuschreibe, dann ist das nach meiner Meinung und nach der vieler Kolleginnen und Kollegen Hate Speech. Denn weder legen Aussehen oder Herkunft Menschen auf irgend etwas fest, noch liegt es in der Hand der Bezeichneten, an ihrer Herkunft oder ihrem Aussehen etwas zu ändern - sie sind nicht dafür verantwortlich. Anders ist es bei Menschen, die Mitglieder der AfD sind oder bei PEGIDA mitlaufen. Sie können sehr wohl etwas dafür, denn sie haben sich in einem Akt freien Willens dazu entschieden, mitzulaufen, mitzurufen und mitzuklatschen oder der Partei beizutreten, regelmäßig einen Mitgliedsbeitrag zu bezahlen, an Diskussionsabenden und Stammtischen teilzunehmen und womöglich für die Anliegen der Partei zu werben. Und sie machen sich damit auch die Positionen zu eigen, die in den Reden und Transparenten (im Fall von PEGIDA) und in den Programmen und Pressmitteilungen (im Fall der AfD) vertreten werden. Die Zuschreibung "Rechtspopulist" oder "Nazi" erfolgt also nicht auf der Basis unverseller oder unveränderbarer Eigenschaften. Daher handelt es sich aus meiner Sicht nicht um Hate Speech. Natürlich wollen die, die andere als "Nazi" bezeichnen, diese herabwürdigen und ausgrenzen und viele empfinden es als beleidigend, wenn sie als Nazis bezeichnet werden. Aber nicht jede Herabwürdigung und Ausgrenzung ist Hate Speech.