In Zeiten des Wandels dienen längst vergangene Zeiten häufig als Projektionsfläche für jene, die diesen Wandel ablehnen und rückgängig machen wollen. Die Vergangenheit wird zu einer Art Utopie stilisiert, in der vermeintlich verloren gegangene Werte wirksam waren und vor deren Hintergrund die Gegenwart degeneriert und minderwertig erscheinen soll. Dies freilich mit dem Ziel, die gegenwärtige Akteure zu kritisieren und ggf. zu Verhaltensänderungen zu bewegen.
Gegenwärtig begegnen uns immer wieder Meme, in denen eine vermeintlich verloren gegangene Männlichkeit einer vermeintlich verweichlichten Gegenwart gegenübergestellt wird. Die Gegenüberstellung wird durch ein Nebeneinander zweier Bilder erreicht, die teilweise ohne weitere Erklärung auskommen, teilweise aber noch mit explikativen Texten unterlegt sind, wie im folgenden "Männer damals und heute"-Memes:
Der anpackende, nach außen wirkende Mann wird dem um sich selbst besorgten und Schaden an seiner Umwelt vermeidenden Mann gegenübergestellt. Eine weitere Variante des "Männer damals und heute"-Memes stellt die vermeintlich schwindende Männlichkeit in den Kontext der Debatte um Elektromobilität...
... oder stellt ikonisch einen Zusammenhang zwischen dem Verlust an männlich-heroischem Kriegertum und übersteigerter Körperpflege her.
Auch wenn Phänomene wie vegane Handcremes, Elektroroller oder Gesichtsmasken für Männer aktuelle Phänomene sind, so sind die Leitdifferenzen, die diese im Vergleich zu Äxten, Harleys oder Kriegsutensilien zu Insignien des Niedergangs der Männlichkeit machen ganz und gar nicht aktuell. Diese Leitdifferenzen verweisen vielmehr auf langfristig wirkende tiefensemantische Gegensatzpaare, die die soziale Welt überhaupt erst mit sozialer Bedeutung aufladen.
Aufgrund ihrer Langfristigkeit erscheinen sie uns als selbstverständlich oder sogar natürlich gegeben, obwohl sie das Ergebnis vieler kumulierter Kommunikationsakte sind. Sie helfen uns dabei. Zeitphänomene schematisch einzuordnen und strukturieren so unsere Wahrnehmung.
Die Gegenüberstellung von ursprünglich Männlichem und Verweichlichtem ist eine uralte diskurssemantische Grundfigur, die in Umbruchszeiten immer wieder Konjunktur hatte. Die Nachahmung höfischer Sitten durch das Bürgertum kritisierten etwa Daniel Chodowiecki und Christoph Lichtenberg im Göttinger Taschenkalender in einer Serie von Kupferstichen und dazugehörigen Erklärungen mit dem Titel "Natürliche und Affectirte Handlungen des Lebens", von denen im Folgenden das programmatische Kuperstichpaar vorgestellt werden soll.
In den Kupferstichen werden "Natur" und "Affectation" (frei übersetzbar als Künstelei) einander gegenübergestellt. Das natürliche Pärchen erscheint als ein Paar im (oder zumindest nahe am) Naturzustand, während das Gegenbild das Zerrbild höfischen Verhaltens zeigt: mit Drahtgestellen und Kissen aufgetürmte Hochfrisuren, Reifrock und Schnürleib bei der Frau, nutzlose Gehänge und Schnallen beim Mann, eine aus dem Gesellschaftstanz entlehnte Handhaltung und die Fußstellung im Kontrapost - all dies verweist auf unnatürliche Zurichtungen und Disziplinierungen des Körpers, die den Betrachtern des 18. Jahrhunderts als untrügliche Indizien der Nachahmung höfisch-französischer Sitten erschienen. Der Kommentator Christoph Lichtenberg attestierte dem Mann denn auch ein "con amore-Gesichtchen" und eine "Liebevolle Geistes-Kränklichkeit", allesamt Zeichen der Verweichlichung.
Dass Veränderung zum Schlechten und fremde Einflüsse häufig mit einander in Beziehung gesetzt wurden, zeigt ein weiterer Kupferstechich von Christian Gottlieb Geyser, bei dem Alt und Neu in einem Bild zusammengefasst werden:
Im Bild wird ein Deutscher - wie es scheint - nicht ganz freiwillig neu frisiert und eingekleidet. Die abgelegte deutsche Tracht liegt schon neben ihm auf dem Boden, während ihm Rock und Perücke gereicht werden. Wie im "Männer damals und heute"-Mem wird die Veränderung der "Gemüthsart" mittels zeittypischer Accessoires visualisiert. Das tiefensemantische Bewertungsschema bleibt freilich seit 250 Jahren konstant: Kultureller Wandel wird als Verweichlichung, ja Aufgabe der eigenen Identität gedeutet.
Da verwundert es schon, dass es nach 250 Jahren kulturellem Wandel noch immer Männer gibt.
PS: Dass die diskurssemantische Grundfigur sicher noch viel älter als 250 Jahre ist, belegt beispielsweise die Titelkupfer zur "Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschafft der Privat-Personen" von 1728.