Für Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik habe ich als Gastherausgeber ein Heft zum Thema "Hassrede / Hate Speech" inhaltlich gestaltet. Im Folgenden veröffentliche ich das Editorial:
Der Ausdruck Hassrede und sein englisches Pendant Hate Speech haben im deutschen öffentlichen Diskurs eine steile Karriere gemacht. Seit 2015 sind sie zusammen mit den Ausdrücken Hasskommentar und Hassbotschaft sowie mit Komposita mit dem Determinatum Hetze (Hetzkommentar, Online-Hetze) zur Chiffre für die spezifische Qualität politischer Debatten in sozialen Netzwerken geworden. Hate Speech ist eine Sonderform der Herabwürdigung. Eine Herabwürdigung besteht darin, dass man einer Person eine soziale Identität zuschreibt, die von der Mehrheit der Gesellschaft negativ beurteilt wird, eine unwerte, moralisch verwerfliche oder randständige Identität. Im Unterschied zu anderen Formen der Herabwürdigung liegt Hate Speech dann vor, wenn die Herabwürdigung ihre herabwürdigende Kraft daraus bezieht, dass eine Person als Vertreterin einer Gruppe adressiert wird und ihr negative Eigenschaften zugeschrieben werden, die dieser Gruppe vermeintlich kollektiv, universell und unveränderbar zukommen.
Damit eine Äußerung den beabsichtigten herabwürdigenden Effekt hat, ist es nicht genug, sie öffentlich oder zumindest für den zu Beleidigenden wahrnehmbar zu äußern. Sie könnte als irrelevant ignoriert oder als Zeichen einer nicht normgemäßen Geistesverfassung des Beleidigers zurückgewiesen werden. Damit die Zuschreibung einer marginalisierten sozialen Identität gelingt, muss sie von Dritten anerkannt werden. Nur wenn eine relevante Gruppe von Menschen die Zuschreibung der negativen Eigenschaft als zutreffend anerkennt, hat dies Folgen für die soziale Identität der Betroffenen. Das unterscheidet sprachliche Gewalt auch von physischer Gewalt: Physische Gewalt kann man aufzwingen, symbolische Gewalt bedarf der Anerkennung durch Dritte. Damit Hate Speech wirken kann, braucht sie daher die Öffentlichkeit, den Skandal. Ohne die Claqueure auf den Plätzen, ohne die Likes auf Facebook hätte Hate Speech keine Chance.
Bislang war die Beschäftigung mit dem Phänomen Hate Speech von dem Bemühen geprägt, sie theoretisch zu fassen und von anderen Formen der Herabwürdigung abzugrenzen, ihre Erscheinungsformen zu beschreiben und ihre Effekte zu untersuchen. Die deontische Bedeutungsdimension, nämlich dass Hassrede eine zu vermeidende, ja zu ächtende Modalität der Interaktion ist, blieb dabei meist erhalten. Die hier versammelten Beiträge stellen insofern eine Neuorientierung in der Beschäftigung mit Hassrede / Hate Speech dar, als sie einerseits ihre gesellschaftliche Bearbeitung in den Blick nehmen und andererseits ihr fundamentale Funktion für die Dynamik von Kulturen und die Vorstellungen von sozialer Ordnung herausarbeiten.
Der Beitrag von Anne Lauber-Rönsberg stellt den Umgang mit Hate Speech aus juristischer Perspektive dar. Sie diskutiert insbesondere auch das vor wenigen Monaten verabschiedete "Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken" vor dem Hintergrund der Kommunikationsfreiheiten, dem Schutz des Einzelnen durch die Menschenwürde und das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie den Grundrechten derInformations-Intermediäre. Joachim Scharloth untersucht in seinem Beitrag sprachkritische Debatten zur Frage, ob es sich bei Äußerungen um (gruppenbezogene) sprachlichen Herabsetzungen handelt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass metainvektive Diskurse strategisch dazu genutzt werden soziale Ordnungsvorstellungen reflexiv zu machen, zur Sprache zu bringen und ggf. in Gruppen durchzusetzen. Constanze Marx richtet den Blick auf den Umgang mit Hate Speech durch Betroffene. Sie untersucht Strategien der Rekontextualisierung von Hassrede und deutet sie als Aneignungs- und Positionierungsverfahren, die geeignet sind, eine Ordnung zu installieren, die auf moralischen Maßstäben basiert. Lars Koch beschäftigt sich aus medienwissenschaftlicher Perspektive mit dem Wandel der Repräsentationsordnung (post-)migrantischer Lebensweisen in der bundesrepublikanischen Populärkultur, indem er die Aneignung von Invektivität im deutsch-türkischen Kino untersucht und noch einen Seitenblick auf die Ethno-Comedy wirft. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die beobachteten Entwicklungen als Verschiebung des hegemonialen Diskurses und als Außerkraftsetzung essentialisierender Kulturbestimmungen lesbar sind. Alfons Friedemann analysiert sprachkritische Wörterbücher, um die argumentativen Muster herauszuarbeiten, die benutzt werden, um den Gebrauch einzelner Ausdrücke als unmoralisch zu begründen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Topoi antirassistischer Wortkritik unter dem Einfluss der Neuen Sozialen Bewegungen verändert haben. Stefanolix reflektiert in seinem Beitrag, die Frage, inwiefern staatliche Maßnahmen geeignet sind, öffentliche Debatten zu regulieren. Als Blogger, der für diesen Beitrag sein Pseudonym, mit dem er im Netz schreibt und kommentiert, beibehält, leistet er einen Beitrag zur Frage, wie die Beteiligten die Debatte um Hate Speech wahrnehmen und welche Lösungsansätze sie zur Bearbeitung von Hassrede favorisieren.
Die Beiträge des Themenhefts sollen insgesamt dazu beitragen, eine Perspektive auf Praktiken sprachlicher Herabsetzung zu entwickeln, die nicht in der Semantik von Täter und Opfer, gut und schlecht, akzeptabel oder unschicklich aufgeht, sondern gruppenbezogene sprachliche Herabsetzung als einen fundamentalen Modus gesellschaftlicher Kommunikation fasst.
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Am 25. Mai verabschiedete das Japanische Parlament ein "Gesetz zur Förderung von Anstrengungen zur Beseitigung diskriminierender Rede und diskriminierenden Verhaltens gegen Personen, die nicht aus Japan stammen" ("Act on the Promotion of Efforts to Eliminate Unfair Discriminatory Speech and Behavior against Persons Originating from Outside Japan"), das seit dem 3. Juni 2016 in Kraft ist. Wie der Name des Gesetzes schon sagt, stellt das Gesetz Hate Speech nicht unter Strafe, will aber Maßnahmen befördern, die das Auftreten von Hate Speech dokumentieren, das Bewusstsein in der Bevölkerung durch pädagogische Maßnahmen und Kampagnen heben und Institutionen auf lokaler Ebene schaffen, die Beschwerden über diskriminierende Äußerungen und Schlichtung von Konflikten ermöglichen.
Während der ursprüngliche Gesetzentwurf der Liberaldemokraten (LDP) die Definition von Hate Speech auf Drohungen beschränkte, die sich gegen den Körper, das Leben oder die Freihet von Nicht-Japanern richten, sowie auf verhetzende Äußerungen, die die Exklusion und Herabwürdigung von Nicht-Japanern beinhalten, wurde der Begriff auf Drängen der Demokratischen Partei (DPJ) auch auf stark provozierende Beleidigungen ("egregious insults") der nicht-japanischen Bevölkerung ausgedehnt. Im Wortlaut der offiziellen englischen Übersetzung:
Anlass für die Erarbeitung des Gesetzes waren die sich seit 2012 mehrenden Kundgebungen von Ultranationlisten, darunter auch der Zaitokukai, die teilweise in koreanisch geprägten Stadtteilen wie Shin-Okubo in Tokyo oder Tsuruhashi in Osaka stattfanden. Schon 1995 hatte Japan die UN-Rassendiskriminierungskonvention ratifziert, musste sich jedoch vom UN-Sonderberichterstatter für Rassismus und Fremdenfeindlichkeit 2005 vorwerfen lassen, dem Problem des Rassismus nicht mit dem gebotenen politischen Engagement zu begegnen. Japan wurde von der UN mehrfach aufgefordert, ein Anti-Diskriminierungsgesetz zu verabschieben. Auch vor diesem Hintergrund muss die Verabschiedung des Gesetzes gesehen werden.
Gegen die Interpretation, nach der nur nicht gerechtfertigte ("unfair") diskriminierende Rede verboten sei, wenden sich beide Kammern des Japanischen Parlaments in einer ergänzenden Feststellung:
Verglichen mit dem, was die Kampagne der deutschen Regierung gegen Hate Speech im Netz auslöste, nimmt sich die Kritik in Japan eher bescheiden aus. Neben der Tatsache, dass das Gesetz Hate Speech nicht strafrechtlich verfolgbar macht, ist es vor allem die Beschränkung seiner Gültigkeit auf Menschen, die sich legal in Japan aufhalten ("who are lawfully residing in Japan"), die Kritiker unter den Befürwortern eines Anti-Hate-Speech-Gesetzes auf den Plan ruft. Von der Gegenseite wird das Gesetz als Form der staatlichen Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs und als Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung verunglimpft.
Die japanische Regierung hat indes neben anderem Material ein Video veröffentlicht, das die schädliche Wirkung von Hate Speech und anderen Formen der Diskriminierung aufzeigt und die Bevölkerung sensibiliseren soll. Auch PEGIDA kommt darin vor:
Der Bürgermeister von Osaka, Toru Hashimoto, hat sich vor einiger Zeit den Kritikern seiner Anti-Hate-Speech-Politik gestellt. Mit dem Vorsitzenden der Zaitokukai, Makoto Sakurai, lieferte er sich ein Rededuell, in dem die Kontrahenten nach kürzestert Zeit jede Höflichkeitsform beiseite ließen. Die Aggression ging dabei von Sakurai aus.
Ein Beleg, dass es sich nicht lohnt, mit Menschen über eine inklusive Gesellschaft und sprachliche Sensibilität zu streiten, die mit Hate Speech Politik machen - nicht einmal in einem Land mit einer Höflichkeitskultur wie Japan.